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MATERIALIEN | Die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

Die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

Bedeutung Heidelbergs

Die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma begann mit einer Demonstration in Heidelberg im Jahr 1973. Sie hatte die Emanzipation der Minderheit als Ziel. Auslöser war, dass der Sinto Anton Lehmann im Jahr 1973 in Heidelberg- Kirchheim von einem Polizisten erschossen wurde. Dieser Mord reihte sich in eine Reihe rassistisch geprägter Übergriffe ein, die  die Marginalisierung und Stigmatisierung der Minderheit förderte.  Für die Heidelberger Familie von Anton Lehmann war die Tat ein außerordentlicher Schock, wie sein Neffe Johann Lehmann noch 40 Jahre später in einem Gespräch mit Studierenden an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg formulierte. Kurz nach der Ermordung Anton Lehmanns schlossen sich ungefähr 100 Mitglieder der Minderheit zusammen und zogen durch die Hauptstraße, die das Zentrum der Innenstadt Heidelbergs bildete.  Dies war die erste Demonstation der Minderheit in Deutschland. Sie setzten mit dieser Demonstration ein Zeichen gegen rassistische Denkweisen vieler Bürger*innen und zeigten auf, dass die Vorurteilsstruktur des Antiziganismus, welche sich durch jahrhundertealte wirkmächtige Stereotype, Vorurteile und Ressentiments auszeichnet, bis heute für die Betroffenen fatale Folgen haben. Durch das Engagement einzelner Mitglieder*innen der Minderheit, der Organisierung der Minderheit und der Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Völker entwickelte sich eine breite Bürgerrechtsbewegung. Im  Jahr 1982 wurde  der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg gegründet, der als Dachverband der Landesverbände der Deutschen Sinti und Roma fungiert. Das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma wurde 1997 in Heidelberg eröffnet. Es versteht sich als Ort der Begegnung, des Dialogs sowie des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Hier wurde die erste Daueraustellung des NS- Völkermords an den Sinti und Roma eröffnet. Seit 2008 wird von der Manfred- Lautenschläger-Stiftung der europäische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma an Gruppen und Einzelpersonen verliehen. Der Preis soll auf die schwierige Menschenrechtssituation der Sinti und Roma in Deutschland aufmerksam machen sowie zur Verbesserung ihrer Situation beitragen. Im Folgenden erhalten Sie detaillierte Informationen über die Bürgerrechtsbewegung und deren Erfolge.

Erste Demonstration von Sinti durch die Heidelberger Altstadt, um
gegen die Erschießung des Sinto Anton Lehmann durch Polizisten zu
protestieren, 1973.

Erste Demonstration von Sinti durch die Heidelberger Altstadt, um gegen die Erschießung des Sinto Anton Lehmann durch Polizisten zu protestieren, 1973.

Rhein-Neckar-Zeitung © Frau Welker

Vinzenz Rose 1973

Vinzenz Rose 1973

© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Romani Rose mit der damaligen Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, auf der Kundgebung in Bergen-Belsen.

© Friedrich Stark

Johann Lehmann

Johann Lehmann, der Neffe des von einem Polizisten 1973 in Heidelberg erschossenen Sinto, im Gespräch (2018) mit Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg, über den Vorfall seines Onkels in Heidelberg.

Johann Lehmann, der Neffe des von einem Polizisten 1973 in Heidelberg erschossenen Sinto, im Gespräch (2018) mit Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg, über seinen eigenen Umgang mit der Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti und Roma und über die Reaktionen aus der Mehrheitsgesellschaft.

Daniel Strauß

Daniel Strauß, der Vorsitzende des Verbands Deutscher Sinti und Roma - Landesverband Baden- Württembergs e. V., erzählt 2018 über die Minderheit der Sinti und Roma, die Bürgerrechtsbewegung und seine Motivation für sein Engagement.

Hungerstreik in Dachau 1980

An Ostern 1980 begann ein siebentägiger Hungerstreik auf dem Gelände der KZ- Gedenkstätte Dachau. 12 Sinti, darunter drei Überlebende des KZ Dachau, wollten durch diesen Streik das Ende der polizeilichen Sondererfassung sowie die Aufarbeitung des NS-Völkermords erreichen. An öffentlicher Solidarität fehlte es nicht. Selbst ausländische Nachrichtensender machten auf dieses Geschehen aufmerksam. Am 12. April 1980 gab der Bundesjustizminister bekannt, dass Diskriminierung und Vorurteile gegenüber Sinti und Roma abgebaut werden müssen. Der Hungerstreik war ein wichtiger Schritt für die Bürgerrechtsbewegung.

Hungerstreik in Dachau: vorne Ranco Brantner, Franz Wirbel, 1980.

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© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Besetzung des Tübinger Uni-Archivs

Am 1. September 1981 besetzten 18 Sinti den Keller des Universitätsarchivs Tübingen. Die Besetzung führte zu einer Überführung der „NS-Rasseakten“ ins Bundesarchiv nach Koblenz. Bis heute unauffindbar blieben aber die über 20.000 „NS- Rassegutachten“ der "Rassenhygienischen Forschungsstelle", welche die Grundlage für die NS-Verfolgung gebildet hatte. Diese wurden in der NS-Zeit zu pseudowissenschaftlichen Zwecken genutzt.

Besetzung des Tübinger Universitätsarchivs, 1981.

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© Archiv DZOK (Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg) Ulm, NL Brantner, Hans-Ranco Album 5-115

Anerkennung des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma e. V. wurde als politische*r Gesprächspartner*in auf Bundesebene akzeptiert. Als erster Erfolg des Zentralrats gilt die Anerkennung des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma, bei dem bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordet wurden: Am 17. März 1982 wurden die Völkermordverbrechen an den Sinti und Roma durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Anerkennung des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma durch Bundeskanzler Helmut Schmidt, 17. März 1982; auf dem Bild von links u. A.: Romani Rose, Josef Kwiek, Anton Franz, Egon Siebert, Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Andreas von Schoeler, daneben Bundeskanzler Helmut Schmidt.

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© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Offizielle Anerkennung als nationale Minderheit

1995 wurde durch das Bestreben des Zentralrates die Minderheit der Sinti und Roma als nationale Minderheit anerkannt. Sie gehören damit neben den Dänen, den Sorben und den Friesen zu den vier anerkannten Minderheiten in Deutschland. Damit einher gehen der Schutz von eigener Sprache und Kultur sowie der Schutz vor Diskriminierung. Zentralratsjustiziar Arnold Roßberg und Romani Rose thematisieren im Gesprächskreis Minderheiten im Innenausschuss des Deutschen Bundestags 2014 den rassistischen NPD Wahlkampf.

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© Minderheitensekretariat

Nationale und internationale Arbeit

Nationale Arbeit

 

Eines der ersten großen Vorhaben war die Initiierung eines zentralen Denkmals als Erinnerungsort der Sinti und Roma in Berlin. Ende 1992 wurde sich mit der jüdischen Community darauf verständigt, getrennte Erinnerungsorte in Berlin zu gestalten. Erst 2012 wurde die Umsetzung des Denkmals als Erinnerungsort für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Bundespräsidenten Joachim Gauck eingeweiht. Das Denkmal ist im Kontext der Bürgerrechtsbewegung als bedeutender Schritt zur Anerkennung der Minderheit in Deutschland und ihrer Vergangenheit zu verstehen.

 

Internationale Arbeit

 

Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 hatte dramatische Folgen für die Minderheit. Auf der einen Seite kamen viele Flüchtlinge, besonders aus Jugoslawien, nach Deutschland. Auf der anderen Seite hatten geflüchtete Roma sowie die Angehörigen der deutschen Minderheit mit zunehmendem Rassismus und Antiziganismus zu kämpfen. Besonders drastisch verdichtete sich der Konflikt im Kosovo. Hier kam die Minderheit zwischen die Fronten eines Nationalitätenkonflikts. Erste Übergriffe gab es 1999 von albanischen Nationalisten auf Roma-Familien. Daraufhin folgte die Vertreibung von 100.000 der damals dort lebenden 150.000 Roma. Romani Rose, ein aus Heidelberg stammender Bürgerrechtsaktivist und langjähriger Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, besuchte 1999 mit Unterstützung der damaligen rot-grünen Bundesregierung die Stadt Prizren im Kosovo. Sein Ziel war, vor Ort mit UN-Vertreter*innen, KFOR-Truppen und der Minderheit zusammenzukommen, um für Roma eine gleichberechtigte Teilhabe beim Aufbau des Landes zu fordern. Des Weiteren bat er die Bundesregierung sowie internationale Vertreter um stärkere Unterstützung der Roma im Kosovo.

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Entschuldigung des BGH für ein rassistisches Grundsatzurteil nach 60 Jahren

Am 07.01.1956 fällte der IV. Zivilrat des Bundesgerichtshofes ein Grundsatzurteil mit der Aussage, dass Sinti und Roma vor 1943 nicht aus rassischen Gründen verfolgt wurden. Vielmehr wurde die Verfolgung dadurch legitimiert, dass  „Zigeuner“ diese durch ihre  „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ selbst zuverantworten hätten. Die NS-Behörden mussten demzufolge als Reaktion auf Rechtsverstößen und Ordnungsmaßnahmen reagieren, was wiederum als offizielle Einweisungsgrundlage diente. Dabei argumentierte die Justiz im NS-Jargon und stützte sich in ihrem Urteil auf NS-Fachliteratur. Dieses Urteil spiegelte die Rechtsprechung in der Nachkriegszeit wider, in der viele im Nationalsozialismus aktive Jurist*innen in den Justizapparat zurückkehrten. Dieses Urteil war die Arbeitsgrundlage aller Behörden und wirkte sich konkret negativ auf die Unterstützungs- und Hilfeleistungen der Überlebenden nach 1945 aus. Sie hatten kein Anspruch auf Entschädigung. Erst 1963 wird dieses rassistische Grundsatzurteil abgeändert, so dass eine Anerkennung des Entschädigungsanspruchs stattfinden konnte. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erreichte in mehr als 3.500 Fällen eine Neuentscheidung. Anlässlich des 60. Jahrestages des rassistischen Grundsatzurteils fand 2016 ein gemeinsames Symposium des Bundesgerichtshofs und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma statt. Teil des Symposiums war eine öffentliche Entschuldigung des BGHs, der das  Urteil als „unvertretbar“ und als eines für das „man sich nur schämen könne“ gewertet wurde. BGH-Präsidentin Bettina Limpberg beim Besuch im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, 2015.

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© Behar Heinemann

Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum, 2015 (von links): Dr. Tobias Quantz (ehemaliger persönlicher Referent der BGH-Präsidentinund Richter am Amtsgericht), Prof. Dr. Mosbacher (Richter am BGH), Bettina Limpberg (BGH-Präsidentin), Romani Rose, Dr. Silvio Peritore, Jacques Delfeld.

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© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Literaturhinweise

  • Gress, Daniela: Zwischen Protest und Dialog. Die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma. Der lange Weg zur politischen Anerkennung. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Bürger & Staat. Antiziganismus, Heft 1-2/2018. Stuttgart 2018, S. 21-27.

  • Strauß, Daniel: Informationstafeln der Ausstellung „Mari Parmissi – Unsere Geschichte“. Hg. v. Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Baden- Württemberg; RomnoKher. Mannheim 2016.

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